Stand der Technik — Regel der Technik — Verbindlichkeit - Kundmachung
Die Elektrotechnik hat als eine der Grunddisziplinen des Ingenieurwesens bereits eine lange Tradition des dokumentierten Standes der Technik und der technischen Regelsetzung hinter sich. Funktionalität und vor allem Sicherheit zwingen in der Elektrotechnik zu einer Verständigungsbasis, die technische Erkenntnisse vergleichbar und reproduzierbar machen.
So wurde bereits im Jahre 1889 vom Elektrotechnischen Verein Wien — dem Vorläufer des Österreichischen Verbandes für Elektrotechnik — die Sicherheitsvorschrift EVWI herausgegeben, um Anforderungen an elektrische Anlagen im Rahmen des damaligen Standes der Technik für den sicheren Umgang mit Elektrizität festzulegen.
Heute umfasst das elektrotechnische Normenwerk ca. 6.000 Publikationen und eine Vielzahl weiterer normativer Dokumente. Der Stand der Technik wurde und wird durch Regeln der Technik beschrieben. Beide Begriffe und weitere Termini werden oftmals im Alltag verwendet, ohne jedoch die unterschiedlichen Nuancen zu beachten.
1. Begriffsbestimmungen
Definitionen zum Stand der Technik finden sich sowohl in internationalen als auch europäischen normativen Dokumenten, im internationalen ISO/IEC-Guide 2 und in der auch in Österreich übernommenen europäischen Norm ÖVE/ÖNORM EN 45020. Auf nationaler Ebene wurde der Begriff zudem in für den elektrotechnischen Bereich relevanten Gesetzen, in der Gewerbeordnung und im ArbeitnehmerInnenschutzgesetz definiert.Vergleicht man nun die im Text unterschiedlichen, aber sinnverwandten Definitionen, so kann man zusammengefasst sagen, dass der Stand der Technik durch folgende Merkmale charakterisiert wird:
- entwickeltes Stadium der technischen Möglichkeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt
- basierend auf gesicherten Erkenntnissen
- erprobte und erwiesene Funktionstüchtigkeit.
In Gegenüberstellung zum Technischen Fortschritt und somit auch zum Stand der Wissenschaft hat der Stand der Technik ein „gereiftes” Stadium, die auf ihn beruhenden Erkenntnisse und technologischen Verfahren sind entwickelt und gesichert, da erprobt bzw. erwiesen. Beiden Stadien (Stand der Technik/Stand der Wissenschaft) gemein ist, dass sie nur zu einem bestimmten Zeitpunkt greifbar sind. Der Stand der Technik ändert sich wie der Stand der Wissenschaft laufend mit dem technischen Fortschritt.
2. Anerkannte Regel der Technik
Gemäß Definition aus ÖVE/ÖNORM EN 45020:2007-02-01 – Abschnitt 1.5 ist eine anerkannte Regel der Technik eine „technische Festlegung, die von einer Mehrheit repräsentativer Fachleute als Wiedergabe des Standes der Technik angesehen wird“.
Um den mit dem technischen Fortschritt sich stets weiter entwickelnden Stand der Technik einheitlich darzustellen, z. B. für Konstruktionsüberlegungen und Beurteilungen, wird er zweckmäßig zu einem bestimmten Zeitpunkt festgelegt. Diese Festlegungen werden als Regel der Technik bezeichnet, wobei man von einer anerkannten Regel der Technik spricht, wenn diese von einer qualifizierten Mehrheit festgelegt wurde.
In der Elektrotechnik sind normative Dokumente, die als Regeln der Technik den Stand der Technik beschreiben, wesentlicher Bestandteil der Arbeitsgrundlagen im Ingenieurwesen. Sie bilden eine Kommunikationsbasis und legen einen einheitlichen, über Grenzen hinweg kompatiblen Stand der Technik fest.
Normative Dokumente können folgende Veröffentlichungsarten besitzen:
- eine klassische Norm, herausgegeben von einer anerkannten Normungsorganisation, entstanden in einem Konsensverfahren
- eine technische Spezifikation, die technische Anforderungen festlegt
- Vorschriften der Behörde, wie z. B. die EMV-Verordnung
- Anleitungen für die Praxis, mit Empfehlungen von Praktiken oder Verfahren
Das normative Dokument als Regel der Technik kann, muss jedoch nicht eine Norm sein. Die drei letzt genannten Dokumentenarten können sich aber auf Normen stützen. Die Regel der Technik ist nicht nur auf das Beschreiben der technischen Möglichkeiten gemäß des Standes der Technik beschränkt. Darüber hinaus kann sie Regeln im Sinne von Vereinbarungen festlegen.
3. „Verbindliche“ Regeln der Technik, Kundgemachte Normen und Referenzdokumente
Der Bereich Elektrotechnik ist durch eine Vielzahl von Richtlinien der EU reglementiert, die als bindendes Recht einzelstaatlich umgesetzt werden müssen. In Österreich hat man sich entschieden, die Richtlinien der EU nicht auf Gesetzesebene, sondern flexibler im Verordnungsweg zu implementieren. So werden z. B. die Niederspannungsrichtlinie oder die EMV-Richtlinie in Österreich durch die Niederspannungsgeräteverordnung bzw. die EMV-Verordnung auf Grund des Elektrotechnikgesetzes umgesetzt.
Der Geltungsbereich der für den Bereich Elektrotechnik zutreffenden Richtlinien der EU erstreckt sich vornehmlich auf Betriebsmittel. Der Bereich der elektrischen Anlagen wird heute noch weitgehend einzelstaatlich geregelt. Es ist daher zweckmäßig, neben den (Betriebsmittel-)Verordnungen mit EU-rechtlicher Basis eine gesonderte Regelung für elektrische Anlagen — ohne EU-rechtliche Basis — zu treffen. Dies geschieht in Österreich über die Elektrotechnikverordnung ETV. Ein Merkmal der EU-Richtlinien nach dem so genannten New Approach ist die Angabe von grundlegenden Anforderungen anstelle einer taxativen Auflistung von anzuwendenden Normen. Der Grund für diese „Freizügigkeit“ liegt darin, dass der technische Fortschritt nicht durch die zwingende Forderung nach Regeln der Technik behindert werden soll.
Dem Hersteller von Betriebsmitteln soll es möglich sein, innovative Ideen bei der Produktentwicklung einbringen zu können. Bei Nichtanwendung oder nur teilweiser Anwendung von Normen wird aber der Hersteller in die Verpflichtung genommen, die Erfüllung der grundlegenden Anforderungen zu dokumentieren, in manchen Bereichen (z. B. EMV) ist hier sogar die Einschaltung von Drittprüfern notwendig. Im Bereich der elektrischen Betriebsmittel ist also die Anwendung der Regeln der Technik nicht zwingend, der Hersteller kann sich am Stand der Technik, ja sogar am Stand der Wissenschaft, orientieren, eine dokumentierte Risikoanalyse ist aber jedenfalls vorzusehen.
Die Entscheidung, ob die Konstruktion gemäß den Regeln der Technik oder gemäß dem Stand der Technik bzw. dem Stand der Wissenschaft erfolgt, ist eine Frage der möglichen Marktakzeptanz und Nachhaltigkeit und somit eine kaufmännische Risikoabschätzung. Der Hersteller, oder besser der Errichter, von elektrischen Anlagen hatte diese Entscheidungsfreiheit bisher grundsätzlich nicht. Der Gesetzgeber überließ hier dem Errichter keine individuelle Risikoabschätzung und erklärte im Wege der ETV zutreffende österreichische elektrotechnische Normen (OVE E/EN) sowie ÖNORMEN als verbindlich in der Anwendung. Diese Betrachtung hat nun mit der ETV-Novelle 2020 eine Änderung erfahren:
Die neue Elektrotechnikverordnung ETV 2020 dient wie bisher der Regelung der Sicherheit elektrischer Anlagen und Betriebsmittel sowie anderer Anlagen in deren Einflussbereich. Die wesentlichen Neuerungen: Die Liste der verbindlichen Normen ist nun deutlich kürzer. Nur noch rein österreichische elektrotechnische Normen und elektrotechnische Referenzdokumente können zukünftig verbindlich erklärt werden. Im Anhang II der ETV 2020 werden außerdem so genannte kundgemachte Normen und Referenzdokument aufgezählt, bei deren Anwendung davon ausgegangen werden kann, dass die grundlegenden Sicherheitsanforderungen des Elektrotechnikgesetzes ETG 1992 erfüllt sind. Sollten diese kundgemachten Normen und Referenzdokumente nicht oder nicht vollständig angewandt werden, so ist die Erfüllung der Anforderungen auf Grundlage einer Risikobeurteilung darzulegen.
Gegenüber der Verbindlichkeit hat die Kundmachung also eine bedingte Entscheidungsfreiheit. Während bei der fehlenden oder bei nicht vollständiger Anwendung von kundgemachten Normen und Referenzdokumenten eine dokumentierte Risikobeurteilung notwendig ist, muss bei Anwendung alternativer Lösungsansätze im Zusammenhang mit verbindlichen Normen und Referenzdokumenten eine Ausnahmebewilligung bei der Behörde eingeholt werden.
Es gilt aber grundsätzlich: Normen und Referenzdokumente stellen Mindestanforderungen dar, und somit darf grundsätzlich eine „bessere“ Konstruktionslösung gewählt werden. So darf natürlich ein höherer Leitungsquerschnitt zur Anwendung kommen und ein niedriger Nennfehlerstrom der Fehlerstrom-Schutzeinrichtungen gewählt werden, als die Bestimmungen fordern.